Rückblick auf die 44. Legislaturperiode

5. Economie

93.095 Arbeitslosenversicherungsgesetz. Teilrevision
Loi sur l'assurance-chômage. Révision partielle

Botschaft: 29.11.1993 (BBl 1994 I, 340 / FF 1994 I, 340)

Ausgangslage

Das schweizerische Arbeitslosenversicherungssystem ist in seinen wesentlichen Zügen - sowohl leistungsmässig wie bezüglich seiner Finanzierung - auf die Arbeitsmarktverhältnisse der 80er Jahre zugeschnitten. Die sprunghafte Zunahme der Arbeitslosigkeit seit 1991 kann durch dieses System nicht befriedigend bewältigt werden.

Insbesondere muss die Finanzierung der Versicherungsleistungen auf eine neue Grundlage gestellt werden. Der Entwurf sieht eine Erhöhung des maximalen Beitragssatzes von 2 auf 3 Lohnprozente, eine Erhöhung der beitragspflichtigen Lohngrenze und die Einführung von Bundes- und Kantonsbeiträgen à fonds perdu vor. Auf der Leistungsseite wird die mit dem dringlichen Bundesbeschluss eingeführte Differenzierung des Entschädigungssatzes nach sozialpolitischen Kriterien ins ordentliche Recht überführt. Zudem soll die Degression der Taggelder auch in Zeiten erhöhter Arbeitslosigkeit angewendet werden. Weiter wird der Schutz gegen Langzeitarbeitslosigkeit verbessert durch die Möglichkeit, die Höchstzahl der Taggelder in Zeiten andauernder erheblicher Arbeitslosigkeit bis auf 400 zu erhöhen. Diese Bestimmung wird ebenfalls aus dem dringlichen Bundesbeschluss übernommen. Im weiteren sieht der Entwurf eine Reihe von Massnahmen zur raschen Wiedereingliederung der Arbeitslosen vor.

Verhandlungen

SR 14.03./17.03.1994 AB 1994, 216, 309
NR 28.09.-05.10.1994 AB 1994, 1536, 1582, 1631, 1707
SR 02.02.1995 AB 1995, 85
NR 08.06.1995 AB 1995, 1111
SR 15.06.1995 AB 1995, 620
NR 20.06.1995 AB 1995, 1390
  21.06.1995 Einigungskonferenz
SR 21.06.1995 AB 1995, 709
NR 22.06.1995 AB 1995, 1482
SR / NR 23.06.1995 Schlussabstimmungen (32:6 / 134:39)

Angesichts des drohenden 8-Milliarden-Defizits dieser Versicherung und des zeitlichen Druckes stimmte der Ständerat als Erstrat den Dringlichkeitsmassnahmen dieser Vorlage zu, die keine strukturellen Reformen vorsieht. So genehmigte er mangels anderer Finanzierungsarten die Erhöhung des Beitragssatzes von 2 auf 3 Lohnprozente, befristete diese Massnahmen allerdings auf fünf Jahre. Im weiteren stimmte er der Regelung betreffend der zumutbaren Arbeit zu, führte das Prinzip der Degression der Taggelder wieder ein, und erhöhte die beitragspflichtige Lohngrenze. Mit 36 gegen 0 Stimmen hingegen strich er entgegen dem Anraten von Bundesrat Delamuraz die A-fonds-perdu-Beiträge der Kantone zur Finanzierung der Arbeitslosenversicherung und lehnte die Möglichkeit ab, eine von der Verwaltung unabhängige Ombudsstelle einzusetzen.

Mit dem Argument, die Teilrevision der Arbeitslosenversicherung hätte in den Beratungen des Ständerates in eine Sackgasse geführt, beschloss die Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Nationalrates, zusammen mit den Sozialpartnern eine Neuorientierung vorzunehmen. Nach viertägigen Beratungen stimmte der Nationalrat dem Entwurf seiner Kommission in seinen groben Zügen zu. In der Eintretensdebatte anerkannten die Ratsmitglieder, dass die Kommission mit der Kombinierung der aktiven Wiedereingliederungsmassnahmen und des Taggeldanspruchs einen durchaus gangbaren Weg gefunden habe. Der Rat sprach sich - mit Ausnahme der Liberalen und der Fraktion der Schweizer Demokraten und der Lega dei Ticinesi - klar für diesen Kompromiss aus, den er als sozial und politisch verträglich betrachtete.

Bezüglich der Massnahmen zur Sanierung der Versicherung wurden der Erhöhung des Beitragssatzes und der Degression der Taggelder zugestimmt; der beitragspflichtige Höchstlohn beliess er hingegen auf 97'200 Franken, sprach sich aber - unter teilweiser Opposition auf bürgerlicher Seite - für einen Solidaritätsbeitrag der Arbeitnehmer höherer Lohnklassen aus. Die umstrittene Einführung der fünftägigen Karenzfrist passierte trotz Widerstands der Linken mit 99 gegen 61 Stimmen. Gemäss dem Neukonzept der Arbeitslosenversicherung soll nicht mehr prioritär die Dauer der Arbeitslosenentschädigung, sondern die aktive Wiedereingliederung in das Erwerbsleben versichert werden. Die Auszahlung von Taggeldern soll demnach von der Teilnahme an Beschäftigungs- und Weiterbildungsprogrammen abhängen.

Die beiden letzten Verhandlungstage waren der Finanzierung gewidmet. Im Gegensatz zum Modell der Kommission wollte der Nationalrat die Kantone von den Massnahmen zum Erhalt der Vermittlungsfähigkeit Arbeitsloser und zu deren Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt teilweise entlasten; doch sprach er sich dafür aus, dass die Kantone in Ausnahmesituationen nicht rückzahlbare Beiträge zur Finanzierung der Arbeitslosenversicherung zu bezahlen haben. In der Gesamtabstimmung wurde der Entwurf mit 123 gegen 30 Stimmen und 16 Enthaltungen angenommen.

Der Ständerat sprach sich in der Januarsession 1995 zwar nicht grundsätzlich gegen die Systemreform des Nationalrates aus. Die Realisierungsschwierigkeiten, die Gefahr, dass Wirtschaft und Gewerbe durch die Beschäftigungsprogramme konkurrenziert werden und damit eine Parallelwirtschaft aufgebaut wird sowie der Wille, sich vor allem auf die Jugendarbeitslosigkeit zu konzentrieren, veranlassten ihn allerdings, den weniger weitgehenden Anträgen seiner Kommission zu folgen. Entgegen dem Nationalrat beschloss der Ständerat, Beschäftigungs- und Weiterbildungsprogramme nur für Arbeitslose unter 25 Jahren obligatorisch zu machen. Für die anderen soll weiterhin das geltende Recht Anwendung finden. Somit würden die Kantone nur verpflichtet, rund 15'000 Stellen anstelle der ursprünglich vom Nationalrat vorgesehenen 66'000 zur Verfügung zu stellen. Der von den Sozialpartnern ausgehandelte Kompromiss war damit vereitelt. Auch beschloss die Kleine Kammer, einerseits die Höchstgrenze der beitragspflichtigen Löhne auf das Zweieinhalbfache des geltenden Höchstbetrages anzuheben, andererseits die Kantone von der Verpflichtung zu entbinden, in Krisenzeiten bis zu 5 Prozent der Kosten der Arbeitslosenversicherung zu tragen. Den auf den 1. Januar 1995 mit dringlichem Bundesbeschluss eingeführten fünf Karenztagen stimmte er zu.

In der Sommersession verwarf der Nationalrat einen Antrag der SVP, das geltende System unverändert zu lassen und die Schaffung von Arbeitsplätzen vielmehr durch eine Deregulierung zu fördern. Darauf beriet er einen neuen Kompromiss, der in Solothurn mit den Sozialpartnern, den Kantonsvertretern und Vertretern der Kommissionen beider Räte ausgehandelt worden war. Diesem Kompromiss stimmte er mit grosser Mehrheit zu. Somit sollen die Wiedereingliederungsmassnahmen, deren Kosten bis zu 20 Prozent von den Kantonen zu tragen sind, sämtlichen Arbeitslosen offenstehen. Jeder Arbeitslose soll in Zukunft Anspruch auf maximal 520 Taggelder innerhalb von zwei Jahren haben. Davon erhalten Arbeitslose unter 50 Jahren deren 150, solche zwischen 50 und 59 Jahren deren 250 und solche, die 60 Jahre und älter sind, deren 400 ohne Gegenleistung ausbezahlt. Die Auszahlung der verbleibenden Taggelder soll von der Teilnahme an einem Beschäftigungsprogramm abhängig gemacht werden. Die Kantone haben gemäss dem Solothurner Kompromiss insgesamt 25'000 Arbeitsstellen zur Verfügung zu stellen, die gemäss Nationalrat nach Massgabe der kantonalen Bevölkerungs- und der Arbeitslosenzahlen unter den Kantonen verteilt werden. Stellt ein Kanton seine von ihm geforderte Anzahl Arbeitsstellen nicht zur Verfügung, muss er 40% der Taggelder bezahlen. Im weiteren verzichtete der Nationalrat wie bereits der Ständerat darauf, von den Kantonen einen Beitrag à fonds perdu von 5% zur Finanzierung der Arbeitslosenversicherung zu verlangen.

Der Ständerat schloss sich im wesentlichen dem in Solothurn ausgehandelten Kompromiss an. Er akzeptierte die Schaffung von 25'000 Arbeitsstellen durch die Kantone, sprach sich aber im Gegensatz zur Volkskammer gegen die finanzielle Beteiligung der Kantone an den Wiedereingliederungsmassnahmen und den Verteilungsschlüssel für diese Stellen aus. Der Ständerat beschloss eine Jahrespauschale von 2500 Franken je Arbeitsstelle und einen Beitrag von 20% an die Taggeldkosten, wenn ein Kanton die von ihm verlangten Arbeitsstellen nicht zur Verfügung stellt. Die Anzahl dieser Arbeitsstellen begrenzte er auf 20% der Arbeitslosen des betreffenden Kantons.

Die nach der Beratung im Nationalrat verbliebenene Differenz zum Ständerat betraf den Verteilungsschlüssel zwischen Bund und Kantonen bei den zu schaffenden Arbeitsstellen. Die Einigungskonferenz entschied sich für eine Jahrespauschale von 3000 Franken und eine Mindestanzahl von Stellen, die in jedem Kanton zu schaffen sind, d.h. höchstens 25% der Arbeitslosen eines Kantons. Diese Anträge wurden in beiden Räten stillschweigend angenommen.

Legislaturrückblick 1991-1995 - © Parlamentsdienste Bern

 

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